Ich erinnere mich noch genau an meine
erste Begegnung mit diesen Figuren. Völlig unverhofft und
überraschend. Auf einer Entdeckungstour durch London besuchte ich
die Gallery of Contemporary Applied Arts in der Percy Street. Das ist
eine wunderbare Adresse, um herauszufinden, was in der britischen
angewandten Kunst aktuell passiert. Im Hochparterre finden häufig
sorgfältig kuratierte Sonderausstellungen statt. Im Souterrain
zeigen die Mitglieder der Organisation CAA eine kleine Auswahl ihrer
Werke.
Hier, in einem Regal auf Nasenhöhe,
traf ich auf eine kleine Gruppe von anrührend sonderbaren Wesen: Sie hatten ihre gestrickten
Ohren-Mützen tief in die Stirn gezogen. Punkteaugen lugten
skeptisch hervor und auf ihren Gesichtern stand etwas! Z. B. „Oh
yes you do! I’m not your wif … Gabriel laughed … and the
liberty.“ Diese Drucksache stammt offenbar aus einem Groschenroman
und hat sich in das Gesicht einer dieser kleinen Kreaturen verirrt.
Die steht da, auf großen Füßen und mit ausgestreckten Armen. Das
lange Kleid ist geblümt. Mit Handstichen und bunter Knopfreihe
verziert. „almost“ steht in wackeliger Schreibschrift auf einem
aufgenähten Flicken. Beinahe! Fast!
Nachdem ich alle Persönlichkeiten
dieser kleinen Pappmaschees in Augenschein genommen hatte, war es um
mich geschehen. Sie betören mit selbst gemachten Klamotten, hier
bestickt und da mit Litze verziert, noch ein aufgenähtes Blümchen,
eine kleine Trachtenbrosche, ein schicker Knopf. Und immer ein Stück
Bändchen aufgeheftet, auf dem mit wackeligen Buchstaben das Schlüsselwort steht:
„slow“, „and hope“ oder „heidi grows up“, „pick up
sticks“ oder „missing stanley“. Dieses kindliche Gekrakel,
zusammen mit der etwas skurillen Erscheinung, kicken das Kopfkino an.
Was steckt wohl dahinter?
Julie Arkell lässt sich auch in Zeiten
des World Wide Web nicht so einfach finden. Ein ganzes Jahr dauert es, bis ich endlich vor ihrem
kleinen Haus im Norden Londons stehe. Es ist ihr Elternhaus. Aus den
Fensterecken lugen verheißungsvoll kleine Gesichter. Mit beherztem
Schwung setze ich den Türklopfer in Bewegung. Ja! Autoren und
Regisseure erfinden für gewöhnlich solche Geschichten. Hier sind
sie echt.
In den 80er Jahren studierte Julie
Arkell Mode an der St. Martin’s School of Art in London. Doch sie entschied sich sehr bald danach
für ein völlig autonomes Leben als Künstlerin. Über die
Jahrewurde sie in England extrem populär. Die Briten sind auf eine
besondere Weise „handarbeitserfürchtig“ und jeder kennt ihren
speziellen Humor. Dass bei ihnen auch Traditionelles eine große
Rolle spielt, wissen wir nicht erst seit dem jüngsten
Thronjubiläum. Man könnte meinen, die Briten hättennoch ein
anderes Verhältnis zu den alten Werten und Zeiten. Es geht nicht
darum zu sagen, dass es damals besser war. Aber es gibt so viele
Dinge, die heute nicht mehr sind. Bei Julie Arkell kann man diesen
Dingen nachspüren.
Die Londonerin ist eine
leidenschaftliche Sammlerin. In den hohen Regalen ihres Studios
arrangiert sie ihre Schätze. Leere Garnrollen in
allen erdenklichen Größen, Knöpfe und Souvenirbroschen,
ausrangierte Spielfiguren und Matchboxautos, Wollreste, Stickgarne
und Stoffschnipsel, alte Bilderbücher, Zeitschriften und
Postkarten. Von ihren vielen Reisen bringt Julie ungezählte kleine
Fundstücke mit. So zum Beispiel auch das abgewetzte Stück rotes
Schleifenband, auf das ein französisches Kind mit gelbem Garn
„Maman“ gestickt hat. Als Julie es vor Jahren fand, inspirierte
es sie zu der Idee, ihren Figuren ein gesticktes „keyword“ auf
Rock oder Mantel zu heften. Damit man sie besser versteht. Denn sie
sind ja nicht nur niedlich und rührend, sondern manchmal auch etwas
garstig, hässlich sogar. Vielleicht versteht man sie dann etwas
besser, mutmaßt Julie. Es macht ihr sehr viel Spaß, ganz am Ende,
kurz vor Fertigstellung, das passende Motto für die Figur zu
finden: „no more partytime“, „Safety lines for a poet“ oder
„The warmth of many stitches“.
Eigentlich findet sie es nicht in
Ordnung, dass sie und ihre Werke ständig in die
„haberdasher“-Nostalgiekiste gepackt werden. Aber sie tut auch
nicht wirklich etwas dagegen. Und es fragt selten mal jemand genauer
nach. Wenn sie Kurse gibt, versucht sie eher etwas von dem Geist zu
vermitteln, der ihre Objekte entstehen lässt. Dass ihre Fans sie
dennoch am liebsten so genau wie möglich kopieren würden, erstaunt
sie immer wieder. „Haben die denn keine eigenen Geschichten,“
wundert sie sich, „jeder hat doch eine ganz individuelle Weltsicht,
oder?“
Julie lebt in ihrer eigenen Welt. Das
ganze Haus ist eine einzige Installation. Hier bekommen die benutzten, die feinen und besonders
liebevoll gemachten Dinge, originelle Accessoires und Handarbeiten
einen Ehrenplatz. Oder eben ein neues Leben. Die Dinge nehmen ihren
Lauf, ohne Eile und eher zufällig. „I remember all times“ steht
dann irgendwann mal auf einer Schürze. Das Wesen, das sie trägt,
schmückt sich stolz mit einer kleinen Blumenbrosche. Es steht dann
Spalier auf der Treppe zum Atelier. Und schaut zum Fenster hinaus.
Wohnt in einer Schublade oder im Regal. Bevölkert mit seinen
Artgenossen und Verwandten ein liebevoll inszeniertes Szenario. Eine
kleine Stube aus Papier, eine bunte Schachtel, ein ausrangiertes
Körbchen.
Papiermaschee oder "papier cachée"
ist das Grundmaterial für Julies Objekte. Das Rohmaterial liefern meistens alte Penguinbooks,
Taschenbücher und Zeitschriften. Julie amüsiert sich schon bei
dem Gedanken, was für Inhalte sie da zu einem dünnbeinigen
Vierbeiner, einer schiefen Pyramideneiche oder zu einem verblüfften
Wesen transformiert. Weiß ja außer ihr sonst keiner! Aber ihr ist
es wichtig! Deswegen tauchen dann auch ab und zu Zitate auf den
Backen oder hinterm Ohr auf, die ihr beim Zerschnipseln aufgefallen
sind und ihre Fantasie angeregt haben. Sie weiß am Anfang nie, wer
was wird. Neben Knöpfen, Litzen, Garnen und Stoffresten verwendet
sie vor allem die Zutaten Emotion und Nostalgie. Allerdings verbergen
sich in ihren Rezepturen auch einige schärfere Empfindungen, die uns
die bedrückende Erkenntnis von Vergänglichkeit näherbringen.
Exponate, die wir heute als charmant, schräg und pittoresk
wahrnehmen, stellen zur Schau, was vor wenigen Jahrzehnten noch in
jedem Haushalt zu finden war. Als Kind die Knopfschachtel der Oma oder Mutter „aufzuräumen“
gehörte zu den einschlägigen Vergnügungen von Generationen. Heute
kauft man sich beim Verlust eines Knopfes eher eine neue Jacke, als
sich dem Sisyphos hinzugeben, einen passenden neuen Knopf dafür zu
finden.
Julie weiß nur, dass sie all den
Kostbarkeiten, die sie vor dem Vergessen rettet, eine neue
Geschichte, ein neues Leben geben möchte. Die individuellen
Charaktere der Pappmaschee und Sammelsurium-Kreaturen in
Strick-Ohr-Mützen und geflickten Blümchenkleidern sind über
alle Maßen exzentrisch und haben ein kindlich ungelenkes Naturell.
Vordergründige Harmlosigkeit verbirgt eine gewisse Art von
Verletzlichkeit und Raffinesse, die erst in dem Moment zutage tritt, wenn das
Selbstbewusstsein sich entwickelt. Wir alle kennen dieses Gefühl,
das sich so schwer beschreiben lässt. In Julie Arkells Figuren
stoßen wir plötzlich auf emotionale wie geistige Verwandte –
diese arglosen kleinen Loser und Extremisten. Sehr englisch, aber
auch sehr allgemein: „it’s only make believe“ … „so tun als
ob“ …“faire semblant de faire“ … „so geht es uns allen“!
Das Assoziative ist Julie Arkells
besondere Stärke. Sie braucht nur wenig Worte und ein paar Reste aus
früheren Leben und anderen Zusammenhängen. Das genügt, um uns
den Spiegel vorzuhalten, die Seele zu berühren und uns in den
Kurzwarenladen unserer Emotionen zu katapultieren. Und all das wird
mit viel hingebungsvoller Sorgfalt und Überlegung gemacht.
© Schnuppe von Gwinner, Hamburg im
Juni 2012 - reich bebildert veröffentlicht in der Zeitschrift Handmade Kultur Nr. 08/2012, August/ September 2012
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