Dienstag, 2. Juli 2013

It' s only make believe - die Welt der Julie Arkell

--> Berührend, entzückend, melancholisch, frech, schüchtern, erstaunlich und direkt sind die Wesen von Julie Arkell: skurrile Material und Assoziations-Collagen aus allerlei Kurzwaren, leicht ramponierten Fundstücken und einem hintergründigen Strick- und Stick-Schick.


Ich erinnere mich noch genau an meine erste Begegnung mit diesen Figuren. Völlig unverhofft und überraschend. Auf einer Entdeckungstour durch London besuchte ich die Gallery of Contemporary Applied Arts in der Percy Street. Das ist eine wunderbare Adresse, um herauszufinden, was in der britischen angewandten Kunst aktuell passiert. Im Hochparterre finden häufig sorgfältig kuratierte Sonderausstellungen statt. Im Souterrain zeigen die Mitglieder der Organisation CAA eine kleine Auswahl ihrer Werke.

Hier, in einem Regal auf Nasenhöhe, traf ich auf eine kleine Gruppe von anrührend sonderbaren Wesen: Sie hatten ihre gestrickten Ohren-Mützen tief in die Stirn gezogen. Punkteaugen lugten skeptisch hervor und auf ihren Gesichtern stand etwas! Z. B. „Oh yes you do! I’m not your wif … Gabriel laughed … and the liberty.“ Diese Drucksache stammt offenbar aus einem Groschenroman und hat sich in das Gesicht einer dieser kleinen Kreaturen verirrt. Die steht da, auf großen Füßen und mit ausgestreckten Armen. Das lange Kleid ist geblümt. Mit Handstichen und bunter Knopfreihe verziert. „almost“ steht in wackeliger Schreibschrift auf einem aufgenähten Flicken. Beinahe! Fast!
Nachdem ich alle Persönlichkeiten dieser kleinen Pappmaschees in Augenschein genommen hatte, war es um mich geschehen. Sie betören mit selbst gemachten Klamotten, hier bestickt und da mit Litze verziert, noch ein aufgenähtes Blümchen, eine kleine Trachtenbrosche, ein schicker Knopf. Und immer ein Stück Bändchen aufgeheftet, auf dem mit wackeligen Buchstaben das Schlüsselwort steht: „slow“, „and hope“ oder „heidi grows up“, „pick up sticks“ oder „missing stanley“. Dieses kindliche Gekrakel, zusammen mit der etwas skurillen Erscheinung, kicken das Kopfkino an. Was steckt wohl dahinter?


Julie Arkell lässt sich auch in Zeiten des World Wide Web nicht so einfach finden. Ein ganzes Jahr dauert es, bis ich endlich vor ihrem kleinen Haus im Norden Londons stehe. Es ist ihr Elternhaus. Aus den Fensterecken lugen verheißungsvoll kleine Gesichter. Mit beherztem Schwung setze ich den Türklopfer in Bewegung. Ja! Autoren und Regisseure erfinden für gewöhnlich solche Geschichten. Hier sind sie echt.

In den 80er Jahren studierte Julie Arkell Mode an der St. Martin’s School of Art in London. Doch sie entschied sich sehr bald danach für ein völlig autonomes Leben als Künstlerin. Über die Jahrewurde sie in England extrem populär. Die Briten sind auf eine besondere Weise „handarbeitserfürchtig“ und jeder kennt ihren speziellen Humor. Dass bei ihnen auch Traditionelles eine große Rolle spielt, wissen wir nicht erst seit dem jüngsten Thronjubiläum. Man könnte meinen, die Briten hättennoch ein anderes Verhältnis zu den alten Werten und Zeiten. Es geht nicht darum zu sagen, dass es damals besser war. Aber es gibt so viele Dinge, die heute nicht mehr sind. Bei Julie Arkell kann man diesen Dingen nachspüren.


Die Londonerin ist eine leidenschaftliche Sammlerin. In den hohen Regalen ihres Studios arrangiert sie ihre Schätze. Leere Garnrollen in allen erdenklichen Größen, Knöpfe und Souvenirbroschen, ausrangierte Spielfiguren und Matchboxautos, Wollreste, Stickgarne und Stoffschnipsel, alte Bilderbücher, Zeitschriften und Postkarten. Von ihren vielen Reisen bringt Julie ungezählte kleine Fundstücke mit. So zum Beispiel auch das abgewetzte Stück rotes Schleifenband, auf das ein französisches Kind mit gelbem Garn „Maman“ gestickt hat. Als Julie es vor Jahren fand, inspirierte es sie zu der Idee, ihren Figuren ein gesticktes „keyword“ auf Rock oder Mantel zu heften. Damit man sie besser versteht. Denn sie sind ja nicht nur niedlich und rührend, sondern manchmal auch etwas garstig, hässlich sogar. Vielleicht versteht man sie dann etwas besser, mutmaßt Julie. Es macht ihr sehr viel Spaß, ganz am Ende, kurz vor Fertigstellung, das passende Motto für die Figur zu finden: „no more partytime“, „Safety lines for a poet“ oder „The warmth of many stitches“.


Eigentlich findet sie es nicht in Ordnung, dass sie und ihre Werke ständig in die „haberdasher“-Nostalgiekiste gepackt werden. Aber sie tut auch nicht wirklich etwas dagegen. Und es fragt selten mal jemand genauer nach. Wenn sie Kurse gibt, versucht sie eher etwas von dem Geist zu vermitteln, der ihre Objekte entstehen lässt. Dass ihre Fans sie dennoch am liebsten so genau wie möglich kopieren würden, erstaunt sie immer wieder. „Haben die denn keine eigenen Geschichten,“ wundert sie sich, „jeder hat doch eine ganz individuelle Weltsicht, oder?“

Julie lebt in ihrer eigenen Welt. Das ganze Haus ist eine einzige Installation. Hier bekommen die benutzten, die feinen und besonders liebevoll gemachten Dinge, originelle Accessoires und Handarbeiten einen Ehrenplatz. Oder eben ein neues Leben. Die Dinge nehmen ihren Lauf, ohne Eile und eher zufällig. „I remember all times“ steht dann irgendwann mal auf einer Schürze. Das Wesen, das sie trägt, schmückt sich stolz mit einer kleinen Blumenbrosche. Es steht dann Spalier auf der Treppe zum Atelier. Und schaut zum Fenster hinaus. Wohnt in einer Schublade oder im Regal. Bevölkert mit seinen Artgenossen und Verwandten ein liebevoll inszeniertes Szenario. Eine kleine Stube aus Papier, eine bunte Schachtel, ein ausrangiertes Körbchen.

Papiermaschee oder "papier cachée" ist das Grundmaterial für Julies Objekte. Das Rohmaterial liefern meistens alte Penguinbooks, Taschenbücher und Zeitschriften. Julie amüsiert sich schon bei dem Gedanken, was für Inhalte sie da zu einem dünnbeinigen Vierbeiner, einer schiefen Pyramideneiche oder zu einem verblüfften Wesen transformiert. Weiß ja außer ihr sonst keiner! Aber ihr ist es wichtig! Deswegen tauchen dann auch ab und zu Zitate auf den Backen oder hinterm Ohr auf, die ihr beim Zerschnipseln aufgefallen sind und ihre Fantasie angeregt haben. Sie weiß am Anfang nie, wer was wird. Neben Knöpfen, Litzen, Garnen und Stoffresten verwendet sie vor allem die Zutaten Emotion und Nostalgie. Allerdings verbergen sich in ihren Rezepturen auch einige schärfere Empfindungen, die uns die bedrückende Erkenntnis von Vergänglichkeit näherbringen. Exponate, die wir heute als charmant, schräg und pittoresk wahrnehmen, stellen zur Schau, was vor wenigen Jahrzehnten noch in jedem Haushalt zu finden war. Als Kind die Knopfschachtel der Oma oder Mutter „aufzuräumen“ gehörte zu den einschlägigen Vergnügungen von Generationen. Heute kauft man sich beim Verlust eines Knopfes eher eine neue Jacke, als sich dem Sisyphos hinzugeben, einen passenden neuen Knopf dafür zu finden.


Julie weiß nur, dass sie all den Kostbarkeiten, die sie vor dem Vergessen rettet, eine neue Geschichte, ein neues Leben geben möchte. Die individuellen Charaktere der Pappmaschee und Sammelsurium-Kreaturen in Strick-Ohr-Mützen und geflickten Blümchenkleidern sind über alle Maßen exzentrisch und haben ein kindlich ungelenkes Naturell. Vordergründige Harmlosigkeit verbirgt eine gewisse Art von Verletzlichkeit und Raffinesse, die erst in dem Moment zutage tritt, wenn das Selbstbewusstsein sich entwickelt. Wir alle kennen dieses Gefühl, das sich so schwer beschreiben lässt. In Julie Arkells Figuren stoßen wir plötzlich auf emotionale wie geistige Verwandte – diese arglosen kleinen Loser und Extremisten. Sehr englisch, aber auch sehr allgemein: „it’s only make believe“ … „so tun als ob“ …“faire semblant de faire“ … „so geht es uns allen“!

Das Assoziative ist Julie Arkells besondere Stärke. Sie braucht nur wenig Worte und ein paar Reste aus früheren Leben und anderen Zusammenhängen. Das genügt, um uns den Spiegel vorzuhalten, die Seele zu berühren und uns in den Kurzwarenladen unserer Emotionen zu katapultieren. Und all das wird mit viel hingebungsvoller Sorgfalt und Überlegung gemacht.
 
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© Schnuppe von Gwinner, Hamburg im Juni 2012 - reich bebildert veröffentlicht in der Zeitschrift Handmade Kultur Nr. 08/2012, August/ September 2012

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